Stefanie Scheurell

Lengwiler Zyklus
Ausstellung ›Lebenszyklen‹
bei Astorgano & Mai, 2016
Einführung Rebecca Koellner

Liebe Kunstfreunde,

herzlich willkommen zur Ausstellung „Lebenszyklen“ der Künstlerin Stefanie Scheurell. Die Bilder Scheurells erinnern an organische Formen, an Zwitter, Mischwesen zwischen Pflanze und organischer, im klassischen Sinne, fleischiger Materie. Sie wirken wie Naturstudien, im strengen Sinne, wie Sybilla von Merian im 17. Jahrhundert Larven und Schmetterlinge darstellte, oder wie Charles Darwin genau beschrieb, was er sah und malte, was er sah.

Wir sind nun bereits, nach ein paar Zeilen, bei den großen Naturforschern angelangt. Beide, sowohl Merian als auch Darwin waren feine Beobachter. Ich zitiere Buchtitel der deutschen Übersetzung Merians und Darwins: Bei Merian heißt es: Der Raupen wunderbare Verwandlung und sonderbare Blumennahrung und bei Darwin: Über die Entstehung der Arten“ oder „Über die Einrichtungen zur Befruchtung Britischer und ausländischer Orchideen durch Insekten“. Bewusst wählt die Künstlerin Scheurell den sehr konkreten Titel ihrer Ausstellung „Lebenszyklen“ aus und ermöglicht eine Assoziation zu Darwin und auch zu Merian. Das Spannende ist, dass sie auf ihre Intuition und Gefühle bzgl. des menschlichen Werdens und Vergehens verweist. Sie fasst sie in Bilder – und das auf sehr konkrete Weise. Dies ist kein Widerspruch, sondern folgt der Logik der Konkretisierung ihrer Fantasie und Emotionen.

Der Komponist Vincent Wikström schafft eine neue Dimension durch Klänge. Er hat sich von einigen Arbeiten Scheurells inspirieren lassen und rund anderthalb minütige Stücke dazu geschrieben. Sie hören diese, zu den Bildern „Quelle“, „Hochzeit“ und „Strom“. Bedienen wir uns des kunsthistorischen Kanons dürften wir also nicht von Bildern, Zeichnungen oder Malerei reden, sondern von Skulpturen, denn die drei Bilder sind ja nun, durch den Klang, dreidimensional geworden. Doch zurück zur Künstlerin: Bereits seit einiger Zeit beschäftigt sich Stefanie Scheurell mit dem Thema Fruchtbarkeit, Wachstum und Vergänglichkeit. Wesenswerdung ist eines der Schlüsselwörter zu ihren Arbeiten. Es geht um die stete Verwandlung, es geht aber auch um Verletzung und dem, was daraus wachsen kann.

Ursprünge der Arbeiten gehen auf den Ortswechsel nach Konstanz zurück. Raum in Konstanz ist kostbar, das musste die Künstlerin schnell erfahren, auf der Suche nach einem geeigneten Atelier, zum Beispiel. Stefanie Scheurell hat dabei neue Räume in sich selbst entdeckt. Der Ortswechsel war zwar mit einer persönlichen Krise verbunden, doch mit diesem fantastischen Kunstgriff der Hinwendung zu den inneren Räumen stellte es einen Ausweg gegeben – gemäß Hölderlins Satz: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch: Doch zunächst war da der Schmerz, der Schmerz des Stillstandes: Die Arbeit „Herz“, im Rundbogen, drückt es aus: Das Herz ist abgeschnürt. Es kann den Rhythmus des Lebens nicht, noch nicht, wieder aufnehmen. Die Wirklichkeit ist ein Produkt unserer Erfahrung, unserer Fantasie, unserer selektiven Wahrnehmung.

In ihrem ersten Atelier in Lengwil wurde ihr bewusst, wie sehr die Bilder Klänge in ihr erzeugen. Sie wollte diese Spur verfolgen und kontaktierte Vincent Wikström. Der Komponist hörte in sich hinein, um zu erkunden, welche Musik die Bilder in ihm wiederum erzeugen. Beim Bild Quelle hören wir es deutlich: elektronische Geräusche, die unser Gehirn an Tropfen erinnern, mal stärker, mal weniger stark. Hochzeit: Alles ist drin in diesem Paket: Spannung, Wasser, Atmen, Knattern, Sanftheit …

Zurück zu den zweidimensionalen Arbeiten, (die zu dreidimensionalen Arbeiten wachsen können, wenn sie mit Musik unterlegt sind, auch hier ein organischer Prozess des Wachsens und Vergehens!).

Wir sehen hier also Bilder, die sich mit der organischen Materie befassen, mit Greifbaren, mit dem, was beispielsweise auch Chirurgen interessiert. Mit diesem Gedanken eröffnet man natürlich ein Füllhorn der Geschichte des Fortschritts im 20. Jahrhunderts, der immensen Neugierde auf das Greifbare und das Abstrakte, zum Beispiel der Psychoanalyse.Der Fortschritt brachte uns beispielsweise digitale Medien und mikroinvasive Chirurgie, Dinge, die mit dem bloßen Auge nicht wirklich fassbar, also begreifbar, dieses schöne Wort, sind, um nur zwei wichtige Stützpfeiler unseres heutigen Daseins zu nennen. Auch in der Kultur hat sich viel verändert: Musikstile wie Elektro oder Techno sind als Folge der Entwicklung in der Elektrotechnik und Physik entstanden. Überwiegend männliche Forscher und Erfinder haben sie entwickelt. Als Folge ist unser Blick auf die Welt und unsere Vorstellung, wie sie sein sollte oder schlichtweg, wie sie ist, oftmals vom männlichen Blick geprägt. Der US-Musiker James Brown hat es in den 60ger Jahren auf den Punkt gebracht: It’s a Man’s Man’s Man’s World. You see, man made the cars to take as over thr road, man made the trains to carry the heavy load, man made the boats for the water, like Noah made the arch. Man make everything, you know, man make money to buy from other man, but it would be nothing without a woman or a girl. usw. Der Song darf als Hommage an die Frau interpretiert werden.

Sich der Fruchtbarkeit zu widmen, dem beginnenden Leben, aber auch des Vergehens sind nicht untypische Künstlerinnenthemen. Frauen gebären nun mal, sie schenken das Leben, den Ursprung des Seins. Der französische Maler Gustave Courbet, ein ausgezeichneter Beobachter, Vertreter des französischen Realismus, löste 1866 einen Skandal aus mit seinem Gemälde „Der Ursprung der Welt“. Kühn war es von ihm, nahezu provokant, als er eine realistisch gemalte Vulva in Paris ausstellte. Das Gemälde gehört heute zu den berühmtesten der Welt. Warum sage ich das: Wir Menschen sind Voyeure, aber vielmehr wissen wir: Das Geheimnis des Lebens, der Seinswerdung ist nicht begreifbar aber sehr faszinierend.

Scheurells Arbeiten wirken wie strenge Naturstudien und sind doch, im übertragenen Sinne, Fleisch gewordene Fantasien einer Künstlerin und einer Mutter, die genau beobachtete, wie sich ihr Körper während der Schwangerschaften veränderte. Die gezeigten Arbeiten vereinen organischen Vorgänge mit Mitteln der Bildenden Kunst, der Fantasie und teilweise mit Musik und sie stellen Behauptungen auf. Man könnte meinen: So wars gewesen, das habe ich gesehen, das ist ein Naturphänomen!“ Genau darin liegt die Stärke der Arbeiten: Mit mutmaßlichen naturwissenschaftlichen Studien die Kraft von Emotion, Fantasie und Zartheit malerisch zu unterstreichen.

Deutlich wird dies bei der Arbeit Alcea. Sie ist an der Küste Nordfrankreichs entstanden, dort wo der Wind durch den Ärmelkanal pfeift, es daher immer windig ist und die Stockrosen dieser Power trotzen. Auch hier begegnet sie uns wieder, die Natur und ihre intrinsische Kraft, die zarte Blumen gedeihen lässt. Fantasie, Kraft, Emotion und Zärtlichkeit, Zartheit, das sind im Werk von Scheurell keine Gegensätze, sondern Partner im Team. Sie stellen die abstrakte Palette der Malerin dar. Dabei sind Werden, Blühen und Vergehen so elementare Erlebnisse, dass das Zur-Schau-stellen dieser Zustände den Menschen erschüttern kann. „Lebenszyklen“ ist eine Ausstellung, die eine Reise zum Anfang des Seins unternimmt, um dann radikal in dieser Welt aufzublühen, zu vergehen und sich – nicht zuletzt – der Welt mit aller Kraft der Zartheit zu stellen.

Vielen Dank.


Wikström hat übrigens einige Bilder Scheurells vertont; sie können die Künstlerin gerne ansprechen für eine Verabredung in diesen Räumen, um noch weitere Arbeiten zu hören.