Stefanie Scheurell

Christian Z.
Jeremias Heppeler Zur Arbeit Christian Z.  

Chicorée, oder: als hätte man einen aufgeschnitten

Diese Geschichte erzählt vom erforschen und porträtieren, von ausgestellten Körpern und verworrenen Geheimnissen, von offenen Wunden und verwachsenen Narben, vom Jonglieren und von Chicorée. Und wäre dieser Text ein Film, dann spielte die erste Szene in einer Sporthalle. Da nämlich trainiert die Künstlerin Stefanie Scheurell wöchentlich mit ihrer Volleyball-Truppe. Und irgendwann zwischen Aufschlägen und Schmetterbällen schwingt die Hallentüre auf. Auftritt Christian Zander. Zum Zeitpunkt dieser Sequenz trägt Zander, der im Thurgau aufgewachsen ist und in Kreuzlingen lebt, seinen gebrochenen Fuß im Gips, trotzdem zwingt sich der Jongleur zum Training. Geht nicht anders. Scheurell wird später angeben, dass diese große und breite Erscheinung nicht zu übersehen war - und überhaupt: Zanders Körper wird hier noch eine entscheidende Rolle spielen. Als Symbol. Als Index. Zuerst grüßt man sich, später kommen Künstlerin und Artist ins Gespräch. Scheurells Interesse entzündet, als hätte einer Brandbeschleuniger benutzt.

An dieser Stelle ist es wichtig zu Wissen, dass Stefanie Scheurell, die eigentlich eine klassische Malerei-Ausbildung genossen hat, immer wieder in anderen Feldern und Medien auswurzelt. Das dezidiert Menschliche in Verbindung mit seiner fleischig durchbluteten Präsenz rückte sie in der Vergangenheit immer wieder in den Fokus. Entscheidend für die hier verhandelte Arbeit ist ihr Projekt “RUTH”, das sich ungefiltert und direkt an das Leben und den Körper ihrer Großmutter herantastete. Verspielt. Mutig. Ehrlich. Bitter. Real. In Text. Bild. Film. Zeichnung. So entstand eine Art fotografischer Abdruck, ein feinfühlig collagiertes Negativ eines Menschen. Eine Art alternative Realität.
Wie aber gelingt ein solches Anpirschen an einen Menschen? Wie gelingt es, dieses nicht nur oberflächlich abzuzeichnen, sondern das Dahinter, sein Wesen, seinen Geist, sein Ich einzufangen. Einzufrieren. Und wie problematisch kann ein solcher Vorgang werden? Für den Zeichnenden, wie für den Bezeichneten. Dieser Komplexknoten an Überlegungen hat vor allem in der Literatur herausragenden Brückenschläge zur bildenden Kunst ans Tageslicht befördert. “Das Bildnis des Dorian Grey” von Oscar Wilde. Oder “Die Ermordung des Commentatore” von Haruki Murakami. In beiden Texten ging der Vorgang des Porträtierens mit einer Auflösung des abzubildenden Models einher.

Doch rutschen wir zurück ins Reale. Zander wurde Scheurells Muse. Und ja, das ist ein ziemlich angestaubter Begriff, weil er stetig vielgliedrige Abhängigkeitsverhältnisse mitschwingen lässt. Also anders: Zander wurde Scheurells Forschungsobjekt. Auch das klingt falsch, irgendwie zu nüchtern. Zu wissenschaftlich. Und wahrscheinlich liegt die Wahrheit irgendwo zwischen diesen Begrifflichkeiten. Die Künstlerin beschreibt ihre Faszination wie folgt:“Mich faszinieren die Gegensätze, die Christian in sich vereint. Seine innere Stärke und Konsequenz gegen die völlig machtlose Abhängigkeit, in der er sich auch schon befand. Mich fasziniert seine hohe Intelligenz und sein sensibles Auffassungsvermögen im Kontrast zur völligen Parallelisiertheit und seine Flucht in andere Welten. Mich interessiert seine rätselhafte Persönlichkeit. Für mich ist er wie ein tiefer Brunnen, voller Geheimnisse aus vielfältigen, teilweise ungeliebten Welten. Jemand der sein Leben so anders lebt als die Norm. Jemand der in unserem System nicht katalogisiert werden kann und in keine Schublade wirklich reinpasst.”

Fest steht: Um einen Menschen so nah zu kommen, dass er ins Zentrum eines künstlerischen Entwurfs rückt, muss man ihn im Kern begreifen. Und mehr noch: Begreifbar machen können. Du musst ihn studieren. Abtragen. Schälen. Fast wie eine Zwiebel. Schicht um Schicht. “Tatsächlich habe ich gar nicht das Gefühl Christian auszustellen, solange alle Menschen bleiben und nicht zum Objekt gemacht werden, sich zum Objekt machen oder als Objekt gesehen werden.”

Zum ersten Treffen brachte Zander eine Chicoréewurzel anstatt eines Blumenstrauß. Chicorée ist sein Job. Im nunmehr vierten Jahr schneidet er die Wurzeln, sortiert sie. Saisonal. In seinem Keller zieht er ihn selbst. Und wir als Beobachter dieser aufkeimenden zwischenmenschlichen Beziehungsgeflecht deuten diese Geste nun freilich symbolisch, als Metapher für hinterlegte Persönlichkeitsstrukturen. Aber eigentlich - und da müssen wir jetzt ehrlich mit uns sein - funktionieren Menschen abseits von Kunst, Film und Literatur nicht so. Ängste, Schwächen, Spleens und Charaktere sind selten verklausuliert, wenn auch oft im Verborgenen. Meist sind sich einfach da. Greifbar. Ausgestellt.

Deshalb müssen wir diesen Bilder- und Geschichtenstrudel, den Scheurell von Zander zeichnet und in Buchform, Bildern und Ausstellungen in Hamburg und aller Wahrscheinlichkeit nach auch im Thurgau präsentieren wird, als beinahe literarisch verstehen. Der Mensch als Figur. Chicorée wird für uns zum Bild für Zanders neues Leben. Für Wachstum und Aufzucht. Für ein Leben, das sich jetzt in abgesicherten Bahnen bewegt, das es zu schützen gilt, wie ein frisch gesprossenes Pflänzlein. Zander investiert täglich Zeit in Übungen, die seine seelische und körperliche Genesung vorantreiben sollen. Und hier macht es Sinn, dass die Künstlerin eine ganze Reihe der von Zander aufgezogenen Korbblüter zeichnete und aus Keramik formte, als wären es Porträts des Jongleurs. Diese Bilder sehen wie Herzen aus. Wie Organe. Als hätte man einen aufgeschnitten.

Die wirklichen Porträts sind indes auf Fotografien gebannt. In ihnen manifestiert sich Zanders Körper als Zeichen für sein altes Leben, jenes, das sich im Verborgenen befinden soll. Bleiben muss. Bleiben wird. Er stellt ihn gerne aus. Den Körper. Als Zeichen. Offensiv. Schonungslos. Am liebsten, so heißt es, jongliert er nackt. Draussen. Und ja, da schwingen eine Menge Befindlichkeiten mit. So ein Spüren wollen. So ein Reize und Reizpunkte setzen. So etwas Unbedingtes. Bedingungsloses. Scheurell hat das festgehalten. Immer wieder. Mal verwaschen. Mal klar. Mal mehr oder minder dokumentarisch. Mal mehr oder minder inszeniert. Und doch hat diese Bilderserie eines gemein: Die griechisch-römische und zunächst recht eindimensional auftretende Ausstellung der Männlichkeit entpuppt sich unter den zweiten und dritten Blicken als beängstigend fragil.

Denn Zanders Körper trägt eine Vielzahl an Spuren und Verweisen offen zur Schau. Wie ein Inhaltsverzeichnis. Sein Narben markieren regelrechte Fußnoten. Zunächst erscheinen sie als bloße Vermerke, die sich beim konzentrierten weiterforschen als Türöffner von verschachtelte Labyrinthe voller Subtexte erweisen. Scheurell versucht sich einen Überblick zu schaffen. Eine Karte zu zeichnen. Einen Zettelkasten anzulegen. Abzuheften. Aus welchem wir, die Rezipienten ihres Projektes, dann organisiert oder willkürlich schöpfen können. Ein Beispiel? Stichwort “Brasilien / São Paulo
”:

• Aufenthaltsdauer: neun Monate, 2013/14
• tropisch, feucht, bis über 30 Grad in der Nacht, schwül, alles klebt, man kann kaum schlafen bei der Hitze, keine Bewegung der Luft, extremer Regen, alles nass, Kälte
• Niemanden verstehen und nicht verstanden werden
• Zig Millionen Menschen auf der Straße, immer wird gehupt, immer Hektik, Bedrohung etc.
• Über achtspurige Autobahnen laufen. Von Streifen zu Streifen. Auf der Straße in Todesangst stehenbleiben.
• Dann sind sie/ er durch tiefe Autobahntunnel, in denen Gestalten lebten, die wir uns nicht in unseren Träumen vorstellen können.
• die nächtliche Angst überfallen zu werden, angezündet zu werden im Schlaf, mitgenommen zu werden, die Organe entnommen zu bekommen und in eine Mülltonne geworfen zu werden.


Und ja, jetzt haben wir den Zugriff. Denn genau um diese Verbindung von Text und Subtext, von Körper und Geschichte, geht es Scheurell in ihrem Porträt. Sie strebt eine Kompletterzählung an, die aber paradoxerweise nie zu viel erzählen soll. Das ist die entscheidende Eigenschaft der Kunst. Sie darf, achwas, muss, immer unkonkret bleiben. Aber niemals verwässern.

Und ja: Die Versehrten und Verwundeten haben uns seit jeher angezogen. Als Mahnmale, die von Tragödien und Dramen erzählen, die uns das bittersüße Scheitern in den Alltag schwemmen. Weil sie direkt auf uns zurückweisen und uns gerissene Spiegel vorhalten, die uns in Bruchstücken abbilden.