Stefanie Scheurell

Ruth
Code Kunstmagazin, Belgien, 2006
Interview mit Stefanie Scheurell
geführt von Lukas Baden

Lukas Baden: Zunächst möchte dir gerne ein paar allgemeine Fragen zu deinen Arbeiten stellen. Warum und seit wann arbeitest du mit deiner Großmutter?

Steffi: Also die ersten Gedanken an eine Arbeit mit Ruth Wurmhöringer, meiner Großmutter, kamen 2003 auf, und zwar war das kurz nach oder teilweise schon parallel zu der Arbeit Komposition mit einem Pudel. Damals hatte ich als Darsteller einen Dirigenten und eine Hundefriseuse mit Pudel, die in Aktion miteinander getreten sind, und da kamen die ersten Gedanken auf, meine Großmutter mit reinzunehmen. Die ganze Sache wurde dann in einer anderen Form (so Gedanken und Ideen entwickeln sich ja weiter ) in Speyer in der ehemaligen Keksfabrik Hess bei einer Ausstellung bei der Vernissage dann als Aktion aufgeführt, an der meine Großmutter damals mit 84 wirklich live teilgenommen hat und dort dann in einem Beiwagen von einem Motorrad saß und gewunken hat. Die ersten Videoaufnahmen waren auch 2004 –das war zwar auch schon länger in meinem Kopf aber 2004 wurde das dann wirklich umgesetzt. Das war das Video „Ruth erzählt“. Am Anfang war der Wunsch da, mit dem Charakter und mit der Persönlichkeit von ihr was zu machen, die irgendwie aufzunehmen, vielleicht auch irgendwie einzufangen in Foto und Videoarbeiten. Und es war auch der Wunsch von mir sie mal tiefer kennenzulernen und ins Bild zu setzen.

Lukas: Um was geht es in dem Video „Ruth erzählt“?

Steffi: Das lief auch bei euch in der LUV-Ausstellung, und zwar ist das ein recht einfaches Video in dem Sinn dass es einfach eine Einstellung ist, wo man sie sitzen sieht, also Büste, ungefähr, und sie eben die ganze Zeit Sachen erzählt, wo man erst dachte oder wo Betrachter erst denken, ich hätte ihr das vorgegeben, aber es ist eben nicht vorgegeben, sprich was sie sagt ist nicht inszeniert sondern nur das drumherum und wie sie da sitzt. Da macht sie halt ihre alten Sprüche und Witzchen, und das war genau der Punkt, also diese Witzchen und Sprüche und so weiter, die ja typisch für alte Menschen sind, die sie auch immer wiederholen, immer die gleichen.Das ist es, was ich eigentlich so mit reinnehmen wollte.

Lukas: Wie funktioniert denn diese Zusammenarbeit genau?

Steffi: Also, ich habe meine Ideen und Vorstellungen und geh dann mit diesen Vorstellungen und Ideen im Kopf plus den Zeichnungen, die ich gemacht habe, zu meiner Großmutter, stelle ihr sie vor und erkläre ihr diese. Ich frage erst mal, was sie davon hält, und ob sie eben bereit ist, da mitzumachen, und wieder – wie sie selbst sagt – mein Fotomodell zu sein. Das ist manchmal, sagen wir mal, schwieriger, manchmal einfacher, manchmal muss ich sie auch bitten. Manchmal macht sie aber auch gleich mit. Es macht ihr Spass. Ich helfe ihr beim Umziehen, beim Kostümieren, beim Schminken, was ziemlich anstrengend sein kann. Menschen, die generell mit altersdementen Menschen zu tun haben, können das damit vergleichen, wenn sie diese zum Beispiel waschen wollen oder wenn sie ihnen die Haare schneiden. Das sind dann oft ähnliche Prozeduren, die für beide Beteiligten sehr anstrengend sind. Vor der Kamera, sei’s jetzt Foto oder Video, sag ich ihr, wie sie sich positionieren soll, welchen Gesichtsausdruck sie machen soll, wie und wohin sie gucken soll. Das ist schon recht genau geplant, aber es ist auf jeden Fall immer noch Platz für spontane Einwürfe, Spielraum, dass sie auch etwas einbringen kann, wenn sie möchte. Allerdings kann sie da oft nicht mehr wirklich drüber nachdenken; da macht ihr Hirn nicht mehr so mit. Aber manchmal, da hat sie solche Gesichtsausdrücke oder Blicke, die ich ziemlich mag und die ich dann mit einfange.

Lukas: Deine Großmutter ist jetzt schon 86 oder gar 87 Jahre alt, und du hast ihre Altersdemenz erwähnt. Das Kurzzeitgedächtnis funktioniert dann nicht mehr, und, wie du sagst, ist eine „normale“ Unterhaltung mit ihr nicht möglich. So, wie du gerade den Arbeitsprozess beschrieben hast, frage ich mich, wo die Grenzen des phantasmagorischen, also traumhaften, bizarren, gespenstisch bis trugbildhaften Effektes liegen, den du mit dem Einsatz deiner Großmutter innerhalb deiner Kunstwerke erzielst.

Steffi: Ja, das ist eine schwierige Frage. Dazu, denke ich, muss man vielleicht auch kurz drauf eingehen, wie das funktioniert, wenn ich hinter der Kamera stehe. Bei der Frage, wo eine Grenze liegt, oder wie ich was entscheide, spielt besonders das Gefühl mit, also der Bauch. Man kann nicht vorher 100 prozentig im Kopf rational die Inszenierungen ausklügeln oder durchplanen. Also ist es der Moment, in welchem ich durch die Kamera blicke, dass ich eigentlich spüre, wo oder wann genau der richtige Moment ist. Wenn ich auf den Auslöser drücke, denke ich nicht über eine Grenze nach, sondern spüre einfach, was richtig ist.

Lukas: Nochmals zur Phantasmagorie, das bezeichnet ein Erscheinungsbild, wie ein Trugbild, das auch bedrohlich und gespenstisch wirkt. Als Betrachter weiß man nicht, wie weit das Verhalten natürlich ist und wie weit das Verhalten inszeniert ist. Siehst du da irgendwie Grenzen, also auch ästhetische Grenzen, künstlerische Grenzen? Ist das ausbaubar, erweiterbar, sind Variationen in der Zukunft unendlich und vielfältig bzw. denkst du, dass du das Prinzip irgendwann einmal auf ein anderes Feld übertragen wirst?

Steffi: Also, ich probiere ja vieles aus und habe, z. B. bei der Schminke, schon gemerkt, dass man natürlich aufpassen muss mit den Grenzen, also wo es eben noch funktioniert, wo etwas ausgedrückt wird, oder wo es plötzlich kippt und eigentlich nur noch albern und lächerlich ist. Wo man den alten Menschen zum totalen Kasper macht. Mir ist wichtig, dass ich auf jeden Fall mit Respekt mit ihr arbeiten möchte.
Es gibt ein grenzwertiges Video, bei dem kann man ihr beim Aufstehen am Morgen kurz unter das Nachthemd gucken. Das hat jetzt nichts mit Schminke zu tun, aber generell mit ethischen Grenzen. Das muss dann rausgeschnitten werden, weil ich meine Großmutter eigentlich so ganz unschuldig filmen will, wie sie nach dem Schlafen aus ihrem Bett aufsteht, und weil sie in diesem Moment keine Entscheidungsmacht hat.

Lukas: Das ist dann aber doch eher dokumentarisch, das ist ja nicht inszeniert. Da gibt’s bei deinen Arbeiten schon Unterschiede.

Steffi: Auf jeden Fall. Bei den Fotoarbeiten ist alles viel genauer geplant und inszeniert, während bei den Videoarbeiten die Wahl des Mediums wichtig ist. Wenn sie anfängt –grad' was so ihre Art ist –drauflos zu plappern, wo ich nicht reinpfuschen will, sozusagen, wo ich es ganz pur haben möchte.

Zu den Variationen oder den Möglichkeiten, und ob ich das ins Unendliche weiterführen möchte, kurz noch einen Satz. Ich habe einerseits im Moment ganz viele Bilder im Kopf, die ich umsetzen möchte, Material für die nächsten Jahre, andererseits hatte ich aber vor Kurzem bei einem Fotoshooting ein Erlebnis, bei welchem ich mich fragte, ob das jetzt ein Endpunkt ist, ich lieber damit aufhören sollte.

Lukas: Denkst du denn, dass du mit anderen alten Personen die gleichen Aktionen durchführen könntest, die gleichen Ideen umsetzen könntest bzw. dann ähnliche Effekte und Ergebnisse erzielen könntest wie mit deiner Großmutter?

Steffi: Das ist für mich ein klares NEIN! Und zwar auf zwei Ebenen betrachtet. Wie ich schon gesagt hab, spielt für mich ihr Charakter eine große Rolle, sprich, für mich ist die künstlerische Wirkungskraft ganz stark an ihr Individuum gebunden. Es ging mir eben von Anfang an auch darum, ein persönliches Portrait von ihr im künstlerischen Sinn zu schaffen. Da spielt der Biographiebezug wieder eine große Rolle. Z.B. früher, also als ich Kind war, hat mich meine Großmutter kostümiert und hat mit mir Verkleiden gespielt, auch mit meinem Vater, als der schon verhältnismäßig alt war, und sich selbst hat sie auch kostümiert. Dieses Spiel habe ich umgedreht, jetzt kostümiere ich sie. Außerdem wollte meine Großmutter als Kind Schauspielerin werden und Theater spielen; das durfte sie aber von ihrem Vater aus nicht. Soviel vielleicht zur sachlichen Ebene; auf der persönlichen Ebene habe ich schon immer ein ziemlich gutes Verhältnis zu ihr, sie war mir sehr wichtig und wir haben einfach über die Jahrzehnte bis heute ein ganz tiefes Vertrauensverhältnis aufgebaut. Ich denke, dass das dies die absolute Basis ist, um überhaupt so eine Arbeit zu machen. Also insofern ist die Frage für mich mit einem klaren NEIN zu beantworten. Ich kann nicht jedem einfach eine Clownsmaske aufsetzen und dann soll das lustig sein, das geht halt nicht.

Lukas: Wir sprachen über das Übertragen des Prinzips Verkleiden/ Arbeiten mit alten Menschen auf andere alte Menschen. Grundsätzliche Frage: Warum arbeitest du mit alten Menschen zusammen? Manche Künstler behaupten, dass die Oberflächen bei älteren Menschen interessanter seien als die der makellosen jungen Körper. Zielen deine Arbeiten auch auf die Oberflächen ab oder geht es dir um etwas anderes, eher um etwas Inneres, warum du mit alten Menschen, schwerpunktmäßig deiner Großmutter, zusammenarbeitest?

Steffi: Was die Arbeit mit alten Menschen betrifft, muss ich sagen, dass mich alte Männer zum Beispiel gar nicht interessieren, dass mich komischerweise oder vielleicht auch nicht komischerweise nur alte Frauen reizen oder interessieren. Das ist irgendwie etwas, was recht tief in mir sitzt, dass ich da so eine Zuneigung – das gilt natürlich nicht für jede alte Frau, aber ich sag's einfach mal pauschal – dass ich irgendwie so ein Zuneigung spüre und die Alten oft einfach lieb hab. Vielleicht liegt das an diesem Hilflosen, was sie oft schon haben; oder auch Weisen, weil sie schon so viel erlebt haben. Ich möchte denen dann auch irgendetwas geben. Ich gebe ihnen meine 100prozentige Aufmerksamkeit und meine Zeit. Und das Resultat, das sind dann die Arbeiten. Ich denke, dass gerade zu den Arbeiten, die ich mache, viel mehr dazu dazugehört, als sich nur ein Kostüm zu überlegen oder eine Inszenierung, und das Ganze dann schnell abzufotografieren. Da gehört auch vom Zwischenmenschlichen viel dazu oder von der Zeit, die man drumherum nützt, um ein Vertrauen aufzubauen.
Dass ich mich vorwiegend mit alten Frauen beschäftige hat vor allem damit zu tun, dass ich nie wirklich einen Opa hatte, sondern zwei Omas, die ich von Anfang an sehr mochte. Wer weiß, wenn ich die nicht gehabt hätte, ob da dann überhaupt so ein Interesse da wär.
Zur zweiten Frage, ob meine Arbeiten eher auf die Spuren an der Oberfläche oder das Innere abzielen, würde ich auf jeden Fall sagen, dass beides gleichermaßen wichtig ist, dass dies zwei sich ergänzende Ebenen sind, die wahrscheinlich auch nicht einfach unabhängig voneinander stehen können. Von der Oberfläche her betrachtet übt das Alter auf mich auf jeden Fall einen bildhaften Reiz aus. Die Ästhetik der Falten, das Eingefallene um die Augen oder die runtergezogenen Mundwinkel, weil keine Zähne mehr da sind. Das ist natürlich, wie eine Kunstnase oder Schminke, ein bildnerisches Gestaltungsmittel.
Was das Innere betrifft, genauer den inneren Verfall, da interessieren mich vor allem Erinnerung und Gedächtnisverlust. Damit zusammen hängen auch diese –ich sag mal – Parallelwelten, in denen sich alte Menschen anscheinend oft befinden. Was ist im Moment für den alten Menschen real,was ist für mich real? Wenn man Ruth Wurmhöringer auf den Photoinszenierungen sieht, dann ist für uns die Großmutter ja wirklich auf dem Bild, sie ist da, kostümiert, sie ist präsent. Und bei ihr ist eben die Frage: Ist sie für sich auch wirklich da, wo wir sie gerade sehen, oder ist sie vielleicht gerade wo ganz anders, in ihrer eigenen Traumwelt oder Parallelwelt? Diese Bilder oder Photografien, in denen sie in die Ferne blickt, oder – ja, das ist eben die Frage - blickt sie jetzt in die Ferne oder blickt sie jetzt in sich hinein, wo ist sie, an welchem Ort? Also diese verschiedenen Bewusstseinszustände probiere ich mit verschiedenen Inszenierungen oder Verkleidungen anzudeuten.

Lukas: Was dieses Innere oder Verfallen anbetrifft oder die Parallelwelten – ich finde, das wird in deinen Arbeiten oft reflektiert. Sie sind sehr erzählerisch, die Videos sind oft Kurzfilme, vor allem „Jungbrunnen“. Die geloopten Videos sind schon eher Einzelbilder, die für sich stehen, wo etwas wiederholt wird, wo keine Geschichte erzählt wird, sondern im Sinne der Videokunst ein bewegtes, eine belebtes Bild vorherrscht. Jedenfalls haben sie ein anekdotisches, erzählerisches Element, erscheinen, mir zumindest, nostalgisch. Ist darin eine Reflektion der Alten zu sehen, die vorwiegend in der Vergangenheit, also über ihr Leben in der Retrospektive nachdenken und erzählen und mit der Gegenwart eher kritisch ins Gericht gehen? Man kann ja fast behaupten, dass durch den Verlust des Kurzzeitgedächtnisses die Gegenwart eine verschwindend kleine Rolle im Bewusstsein der alterdementen Menschen spielt.

Steffi: Also von mir ist dieser Gedanke nicht angedacht gewesen, aber ich finde das einen sehr sinnvollen, einleuchtenden Gedanken und irgendwie auch eine einleuchtende Herangehensweise an die Arbeiten. Das Erzählerische in meinen Arbeiten, das du eben angesprochen hast, damit arbeite ich generell sehr gern, ja, ich spiele damit, weil ich möchte, dass z.B. durch eine Fotografie von mir weitere Bilder oder Geschichten im Betrachterkopf auslöst oder hervorgerufen werden. Dass etwas Komplexeres vom Rezipienten selber geschaffen wird, also sprich, dass er zwar meine Kunst oder Arbeiten konsumiert, aber dann selber seine eigenen individuellen Bilder produziert.

Lukas: Am Anfang unseres Interviews hast du erwähnt, dass deine Arbeiten vom Alter bzw. vom Tod, vom Tod der Erinnerung handeln. Wie wichtig also sind Erinnerung und Gedächtnis für deine Arbeiten?

Steffi: Sehr wichtig, man muss sich ja überlegen, dass ich mit einem Menschen zusammenarbeite, der eigentlich Bruchteile nach der Aufnahme, die wir gemacht haben, spätestens nachdem ich meine Großmutter wieder umgezogen habe, sie nicht mehr die Kostüme an hat und nicht mehr an dem Ort der Inszenierung ist, spätestens dann nicht mehr weiß, dass wir überhaupt irgendwelche Aufnahmen gemacht haben.
Wenn ich ihr die Arbeiten anschließend zeige, erfährt sie diese jedes Mal neu, weil sie sich nicht mehr erinnert. Ich denke, wenn man das als Betrachter im Hinterkopf hat, dann kommt zu den Arbeiten noch mal eine andere gedankliche Ebene dazu. Wie gesagt, Erinnerung und Gedächtnis sind sehr wichtige Themen. Ich habe dazu auch einmal eine Fotoreihe gemacht bei ihr in der Wohnung (bis vor ein paar Wochen hatte sie noch eine Wohnung in einem betreuten Wohnen, jetzt leider nicht mehr, jetzt ist sie, weil sie einfach mehr Betreuung braucht, in ein richtiges Altersheim gekommen). In ihrer damaligen Wohnung sah es so auf den ersten Blick ganz normal und ganz aufgeräumt auf. Dann hab ich mir eben die Details angeschaut und merkte plötzlich, ok, also irgendwie stimmt da was nicht. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: Sie hat da so einen Wahn, dass sie immer Zahnstocher braucht; deshalb hat sie überall Zahnstocher in Taschentücher eingewickelt und irgendwo versteckt. Du findest also überall eingewickelte Zahnstocher. Man findet in der Besteckschublade ihre Socken, die Seife im Kühlschrank, usw. Es war eine damals eine direkte Arbeit mit dem Verwirrtsein, dem Gedächtnisverlieren, mit der Tatsache, dass man nicht mehr weiß,wo was hinkommt, und diesen Ticks.

Lukas: Ist das z.B. Thema in demeinen Video, „Das Obst in der Waschmaschine“? Reflektiert das so einen Tick mit der Verlagerung?

Steffi: Genau. Das ging also konkret auf das Erlebnis zurück, als ich ihre Socken in der Besteckschublade gefunden hatte. Das war dann so ein Bild dafür. Dann hab ich noch eine Arbeit im Kopf, die ich noch nicht umgesetzt habe, die ich aber vielleicht schon noch umsetzen werde. Ich habe mir überlegt, dass ich gerne Szenen nachstellen möchte, die im Leben von altersdementen Menschen tatsächlich vorkommen. Als kleines Beispiel: nachts, wenn meine Großmutter bei jemandem übernachtet, sitzt sie plötzlich nachts um vier auf dem Sofa neben dem Hausausgang, fertig angezogen, und wartet, dass sie zur Arbeit abgeholt wird, weil sie eben früher immer um vier Uhr nachts abgeholt wurde. Sie war nämlich Krankenschwester. Oder eine andere Szene: sie hält ihren Sohn plötzlich für ihren Mann, obwohl ihr Mann schon längst gestorben ist. Für uns verrückte Szenen, die, wenn sie inszeniert sind, denke ich, auf den ersten Blick ziemlich witzig sind, aber im Endeffekt eigentlich eher ziemlich tragisch.

Lukas: Deine Fotos und Videos sind voll mit diesen Momenten des Tragischen, des Verfalls, der Kränklichkeit, und des zumindest scheinbaren Wahnsinns. Du verwendest also eine „Ästhetik des Schauderns“. Auch in den Videos, in welchen die maskierte Frau zwischen den Betonwänden hin und her läuft, sich dann der Kamera nähert, dann wieder von der Kamera entfernt. Trotzdem lachen oder schmunzeln die Leute, wenn sie deine Arbeiten sehen. Wie erklärst du dir das?

Steffi: Zunächst denke ich, dass das ganz stark mit ihrem Charakter zu tun hat. Wenn man sich z.B. reale Szenen aus ihrem Leben anguckt, erkennt man, dass sie es immer sehr genossen hat – wenn wir z.B. Gäste hatten und es eine große Runde gab – wenn sie die ganze Aufmerksamkeit dieser großen Runde hatte, alle ihr zugehört haben und sie dann den Alleinunterhalter und Witzbold gespielt hat. Also schon so ein Clown oder Kasper war.

Lukas: Wie auf diesem Foto mit dem Karnevalshut?

Steffi: Ja. Und das, denke ich, ist einerseits ein Grund, warum man lacht. Ich hoffe und denke aber auch, dass man eigentlich mehr herzlich, vielleicht aus Zuneigung, oder mit ihr lacht, aber nicht über sie. Das wünsche ich mir auf jeden Fall. Vielleicht liegt es auch daran, dass der Betrachter deshalb lacht, weil man so eine kostümierte alte Frau nicht oft sieht. Vielleicht aber auch ein bisschen aus Hilflosigkeit, weil man nicht so wirklich weiß, wie man reagieren soll, vielleicht auch aus Verlegenheit.
Generell ist es mein Ziel, dieses ernste und auch traurige Thema so anzugehen, dass der Betrachter offen aufgenommen wird, sprich, dass ich nicht durch eine traurige Inszenierung gleich von Anfang an eine Wand des Betrübtseins aufbaue. Dass der Betrachter nicht gleich abgeschreckt wird, sondern direkt reinkommt. Ich denke, dass man bei einer auf den ersten Blick witzigen Inszenierung im zweiten Schritt oft tiefer in das Thema eindringen kann. Und dass der Rezipient durch sein Lachen teilweise selber erschreckt ist, auf den zweiten Blick also selbst merkt, „Huch, ich lache da ja drüber!“, und dann nachdenklich wird und überlegt, warum er jetzt über diese Szene gelacht hat. Ich mag diesen absurden Bildweg, der diese Rätsel in sich trägt, und wo man seinen Gedanken noch freien Lauf lassen kann.

Lukas: Wie beeinflusst denn deine Themenwahl die Wahl des künstlerischen Mediums? Oder hat das künstlerische Medium die Themenwahl beeinflusst?

Steffi: Auf jeden Fall. Warum ich nicht male, zum Beispiel, liegt erstmal auf der Hand: Weil ich keine Malerin bin und auch nicht werde. Weil ich außerdem keine abstrakte Übersetzung von einem realen Bild möchte. Bei mir läuft es so ab, dass ich erst den Gedanken im Kopf habe, dann durch meine Zeichnungen den Ausbau entwickele, und diese dann in Fotografie oder Video umsetze, womit ich wiederum oft Installationen baue. Mit Liveaktionen habe ich es im Moment nicht mehr so, das war vor allem am Anfang. Ich möchte die Wirklichkeit greifen und mit ihr arbeiten. Die erste Aktion damals in Speyer, da hatte ich sie wirklich live da, mitsamt ihrem Charakter. Das hätte ich natürlich in der Malerei so nicht. Was die Wahl des Mediums Installation angeht, da ist es mir ganz wichtig, dass der Betrachter reingehen kann, drin ist, also wirklich nah dran ist, dass es etwas umfassendes ist, was ihn umgibt, in das er eintaucht. Deshalb möchte ich in den Installationen immer verschiedene Sinne ansprechen, sei es – das ist natürlich das Grundlegende – dass Ton da ist, sprich, dass man die Großmutter z.B. singen hört, dass man die Kostüme, die benützt wurden, wirklich spüren kann, anfassen kann, die Haptik, und dass man zum Beispiel auch das Parfum riecht, welches sie benützt. Mir ist wichtig, dass man der ganzen Sache sozusagen direkt in die Augen sehen kann und eingesogen wird, umhüllt wird.

Lukas: Weil das Thema dieser Ausgabe speziell „Tod“ ist, möchte ich dich auch fragen, ob für dich das Alter, weil es so nah am Tod ist, den Menschen eine neue, eine andere Sicht auf das Leben bringt, eine weisere Sicht, vielleicht eine größere Gelassenheit, und ob das für dich als junger Mensch in deinen Arbeiten interessant ist.

Steffi: Ich hab glaub die Frage nicht richtig verstanden.

Lukas: Alte Menschen sind ja sehr nahe zum Tod, sie überblicken die Lebensspanne, also sie haben ein anderes Verhältnis zum Leben, weil das Leben gelebt wurde. Vielleicht habe sie dann ein größere Gelasssenheit und haben nicht das Gefühl, dass sie noch etwas verpassen oder dass sie noch unglaublich viel tun müssen. Sie leben in einer gesättigteren Ruhe.

Steffi: Ob ich das auch so sehe?

Lukas: Ob das deshalb für dich interessant ist, wegen dieser Nähe zum Tod, zum Abschluss.

Steffi: Dazu speziell muss ich sagen, dass ich zwei Großmütter hatte. Die Großmutter, die jetzt vor kurzem gestorben ist, und mit welcher ich auch einmal photografisch etwas probiert hatte, die hatte tatsächlich das aufgewiesen, was du gerade erwähnt hast, diese Ruhe oder Gelassenheit. Man hat das Leben schon hinter sich, man ist einfach ruhiger, entspannter. Aber bei der Ruth Wurmhöringer ist das leider überhaupt nicht der Fall. Sie ist immer so aufgekratzt und wuselt die ganze Zeit herum; und dann sucht sie ja ständig irgendwas, wie das typisch für altersdemente Menschen ist. Sei’s ihren Schlüssel, ihren Zahnstocher oder ihre Nagelschere. Deshalb ist bei ihr leider überhaupt keine Ruhe vorhanden. Insofern kann ich bei der Arbeit mit ihr auch nicht sagen, dass dies der Punkt ist, der mich interessiert hat. Es ist wirklich mehr der „Tod der Erinnerung“ im Sinne von Gedächtnisverlust und von diesen Parallelwelten. Ich glaub, anders kann ich es gar nicht formulieren.

Lukas: Das ist aber gut, das fasst das gut zusammen.

Steffi: Dieser „Tod der Erinnerung“ war ganz stark das, was mich als jungen Menschen so fasziniert hatte. Im Positiven wie im Negativen. Ist diese Flucht, kann man vielleicht fragen, in eine Parallelwelt, ist das eine Verdammnis, wogegen sie nichts machen kann, was sozusagen schrecklich ist. Oder ist das am Ende eine Art Schutz, der im Endeffekt, wenn auch unterbewusst, dem alten Menschen sogar hilft oder recht ist, um nämlich den Verfall, auch den körperlichen Verfall, und eben dieses Zum-Tod-hingehen, was ja ganz klar ist, zu vergessen. Ein Selbstschutz, in den man sich flüchtet, um mit dem Thema nicht wirklich konfrontiert zu sein.

Lukas: Also Vergessen um das Sterben zu vergessen?

Steffi: Ja, vielleicht könnte man’s auch so sagen. Ja, dass es irgendwie leichter wird, die ganzen Gebrechen zu ertragen, die man hat, wie Gedächtnislücken und so weiter. Das ist auch so eine offene Frage, wofür ich noch keine Antwort habe, die aber eine ganz grundlegende Frage ist, die mich interessiert.

Lukas: Vorhin sprachen wir über die „Ästhetik des Schauderns“; wir haben auch über die alten Menschen und das Ansehen gesprochen. Meinst du es gibt eine „Ästhetik des Todes“?

Steffi: Hm, zu „Ästhetik des Todes“ würden mir jetzt zwei paar Stiefel einfallen. Einmal das, worüber jetzt wir geredet haben, das Inszenieren, also eine Ästhetik bewusst zu schaffen. Auf der anderen Seite die Ästhetik, die einfach da ist, sprich, die real ist. Und zu diesem Punkt würde ich auf jeden Fall sagen, dass es eine Ästhetik des Todes gibt. Aber dann würde ich auch gleichzeitig sagen, dass es eine Ästhetik der Geburt gibt oder eine Ästhetik der Natur. Es gibt eigentlich für alles eine Ästhetik. Ein Objekt oder ein Gegenstand oder der tote Körper, alles hat ja irgendwie eine Ästhetik oder eine Bildsprache, egal was es ist, ob es lebt oder tot ist.

Lukas: Hängt das mit dem toten Körper zusammen?

Steffi: Was?

Lukas: Die Ästhetik des Todes.

Steffi: Das kommt ganz drauf an. Auf den ersten Blick, oberflächlich betrachtet, natürlich sofort. Du hast einen toten Körper und der hat eine gewisse Ästhetik. Aber was den zweiten Punkt betrifft, von dem ich sprach, die Inszenierung einer „Ästhetik des Todes“ gibt es. Da könnte man natürlich auch mit Geruch oder allem möglichen kommen. Allerdings müsste ich noch mal länger drüber nachdenken, weil das ein echt heftiges Thema ist, wo man echt auch tiefer gucken müsste.*

Lukas: Ja in deiner Arbeit sieht man ja auch keine toten Körper, und es wird auch nicht gestorben, es ist auch niemand tot, es ist aber die Nähe dazu da, und das ist es auch, was es ausmacht.

Steffi: Meinst du jetzt nochmal in Bezug auf meine Arbeiten, oder meinst du das einfach generell?

Lukas: Ich meinte das generell, aber auch in Bezug auf deine Arbeiten, weil ich mich auch gefragt habe, welche Rolle der Tod in deinen Arbeiten spielt.
Ich persönlich hatte Schwierigkeiten damit, zu behaupten, dass deine Arbeit mit dem Thema Tod zu tun hat. Ich finde, dass sie mit dem Thema „Altern“ auf jeden Fall zu tun hat, aber dass Altern nicht notwendig Tod heißt. Tod, da stelle ich mir wirklich die Körper vor, die auch Anzeichen des Todes oder des Sterbens in sich tragen. Vielleicht kennst du den Film von Elisabeth Kübler Ross, diese Schweizerin, die nach USA ging, und dort die ersten Hospize gründete und Interviews mit Sterbenden geführt hat. Von ihr gibt es auch das Buch „Interviews mit Sterbenden“. Also quasi die ersten Person, die sich mit dem Tod wissenschaftlich, medizinisch auseinandergesetzt hat.

Steffi: Nein, ich kann mich dir anschließen, dass für mich persönlich meine Arbeit erstmal nichts mit dem Tod zu tun hat. Ich würde eher sagen, dass ich mich für diese Arbeiten mit dem Thema Tod auseinandergesetzt hab. So ist es vielleicht besser formuliert. Aber was ich schon glaube, gerade wenn ich mit Menschen spreche, die meine Arbeiten sehen, ist, dass gerade weil alte Menschen und Verfall einfach eine Vorstufe zum Tod sind, sie insofern natürlich schon damit zu tun hat.
Ich habe nämlich schon ziemlich viele sehr persönliche Rückmeldungen gehabt. Wenn plötzlich die Leute zu mir kommen und mir von ihren Eltern oder Großeltern erzählen, die sich in einem ziemlich ähnlichen Stadium befinden – wobei in diesen persönlichen Geschichten natürlich die Angst von den Angehörigen vor dem Tod der Lieben natürlich mit eine Rolle spielt – also da denke ich, kann man generell bei den Arbeiten das Thema nicht ausklammern, weil es einfach nahe liegt und die Leute damit konfrontiert sind. Aber für mich war es ursprünglich nicht der Ausgangspunkt, dass ich gesagt hätte, ich möchte mich mit dem Thema Tod befassen und deshalb mit einem alten Menschen arbeiten.

Lukas: Gut, ich würde das Interview für beendet betrachten, bedanke mich ganz herzlich, Steffi, für die Einsichten, und wünsche dir viel Erfolg!

Steffi: Ja, ich bedanke mich auch.